Ein Wechselbad der Gefühle. Welche Strapazen bei einem der härtesten Rennrad-Rennen körperlich und psychisch auf einen zukommen, musste Sportalpen Athletin Lea bei ihrer Teilnahme am Ötztaler Radmarathon am eigenen Leib spüren. Ihre Erfahrungen.
Der Ötztaler prägt.
Schon früh wurde ich mit dem Rennen aller Rennen konfrontiert. Als kleine Mädchen freuten meine Schwester und ich uns immer auf den jährlichen Tagesausflug nach Sölden, zum Ötztaler Radmarathon. An diesem einen Tag im Spätsommer wurde immer viel geboten. Menschenmengen, Einkaufsstände, leckere Speisen und unzählige Radfahrer. Wir warteten nachmittags immer gespannt an der Zielgeraden auf unseren Papa. Was der aber in den neun Stunden vorher durchgemacht hat, war uns nur zum Teil bewusst. Sicher, 238 Kilometer und 5.500 Höhenmeter klingen auch für ein Kind viel, aber was das wirklich bedeutet, ist mir erst seit Kurzem klar.
Man fiebert Wochen vorher auf diesen einen Tag hin, durchstöbert alle gängigen Langzeit-Wetterprognosen, versucht das Training irgendwie zu strukturieren und den Magen nach und nach an Sportgels zu gewöhnen. Plötzlich stand er vor der Tür. Die Wetterprognosen waren bescheiden und bei der Anreise am Vortag regnete es sehr stark. In Sölden angekommen, fühlte ich mich anders als sonst. Jeder fühlte sich hier anders als sonst. Die Anspannung, den Angstschweiß konnte man buchstäblich riechen. Den ganzen Ort umgab ein besonderes Flair. Erst zu diesem Zeitpunkt begann ich langsam zu verstehen, was meine Freunde, Bekannten und in erster Linie mein Papa meinten.
Zwischen Zuversicht und Enttäuschung
Es dauerte nicht lange, dann fiel der Startschuss und das Feld kam langsam ins Rollen. Die Fahrt von Sölden nach Oetz verlief gut, zu meinem Glück hielt sich die Führungsgruppe im Tempo zurück. Es war genau richtig, um warm zu werden. Ich freute mich auf den ersten Anstieg, das Kühtai. 1.200 steile Höhenmeter erwarteten mich.
Kaum in die Steigung eingefahren, begann es zu nieseln. Ich war aufgrund des Wetterberichts sehr zuversichtlich, dass der Regen bestimmt bald aufhören würde und freute mich auf Sonnenschein bei der Abfahrt. Dass das erst der Anfang war und dass das Wetter sich noch verschlechtern sollte, wusste ich nicht.
An der Passhöhe fuhr ich durch eine unsichtbare Wand und dahinter begann es zu schütten wie aus Kübeln. Die Straßen wurden rutschig und „Fahren auf Sicht“ war aufgrund des Nebels ein Ding der Unmöglichkeit. Bei dieser Abfahrt kam ich an meine Grenzen. Ich wurde von dutzenden fokussierten Fahrern überholt. Ich bezweifle, dass dabei jeder sein Fahrrad voll unter Kontrolle hatte. Ich freute mich, diese gefährliche Abfahrt überstanden zu haben und konnte auf dem Weg nach Innsbruck auf eine schnelle Truppe auffahren.
Mein Verhängnis
Es ging in den nächsten Anstieg, den Brennerpass. Die Freude, eine schnelle Gruppe für den Brenner erwischt zu haben, verging mir bald. Die 20 Männer um mich herum hatten scheinbar keine Probleme den flachen Anstieg mit 30 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit zu meistern. Für mich war das aber durchaus richtig hart. Ich wollte einfach nur nicht abreißen.
Bis zur Passhöhe hatte ich mich „leer“ gefahren und ich spürte, dass meine Beine nicht mehr viel hergeben würden. Wenigstens konnte ich oben noch mein Wurstbrot genießen …
Runter vom Gas
Ich verlor auf der Abfahrt vom Brenner und der Anfahrt zum Jaufenpass jede überholende Gruppe und war somit bis zum Anstieg allein unterwegs. Es war immer noch nass, aber immerhin hatte es aufgehört zu regnen. Meine Motivation schwand zu diesem Zeitpunkt rasant, ein starker Leistungseinbruch machte sich breit.
Einfach nur ins Ziel kommen – mehr wollte ich zu diesem Moment nicht. Der Jaufenpass war reinste Quälerei. Ich versuchte mich über diesen Berg zu retten, immer mit dem Gedanken „das Schlimmste kommt ja erst noch“.
Kurz vor dem Passübergang noch eine kleine Pipi-Pause und runter in die härteste Abfahrt des Tages. Die Abfahrt vom Jaufenpass ist auch unter optimalen Bedingungen eine Herausforderung für mich. Sie ist steil, lang und hat enge Kurven. Bei stellenweisen 20 Metern Sichtweite und vor Kälte tauben Fingern, war diese Abfahrt für mich der schlimmste Teil des gesamten Rennens.
Bevor ich in den letzten Anstieg auf das Timmelsjoch einfuhr, stieg ich vom Rad und lief ein paar Schritte hin und her. Meine Zehen spürte ich nämlich seit dem Kühtai nicht mehr. Danach ging es wieder aufs Rad und ich versuchte mich psychisch auf die letzten 2.000 Höhenmeter einzustimmen. Der scheinbar unaufhörliche Regen wollte mein Gemüt auch nicht unbedingt erheitern und langsam machten sich Rücken- und Knieschmerzen bemerkbar.
Nach jedem Regen kommt Sonnenschein
Als es dann nach ungefähr 800 Höhenmetern aufhörte zu regnen und nach weiteren 200 sogar die Sonne meine Oberschenkel wärmte, war mir auch wieder nach Lächeln. Der Rest des Timmelsjochs war wunderschön, ich genoss die Aussicht, bestaunte den Schnee auf den Bergen. Bald hatte ich den letzten Hügel zur Mautstelle überwunden und ich konnte nicht anders als weinen. Bei dieser Abfahrt war alles vergessen. Ich war so mit meinen Gefühlen beschäftigt, dass ich nur beiläufig bemerkte, dass mich unzählige Leute noch überholten. Es war mir egal. Ich meisterte die Abfahrt, und fuhr nach 9 Stunden und 47 Minuten alleine und vor allem gesund ins Ziel ein. Endlich.